Ein guter Roman hat eine Stimme. "Tante Julia und der Kunstschreiber", Llosas´ Erfolgsroman aus dem Jahr 1977 hat zwei: Mario erzählt über seine Jugend, die peruanische Gesellschaft und die Medien im Lima der fünfziger Jahre. Der Student der Jurisprudenz träumt vom Schriftstellerdasein und lümmelt sich im Radiomilieu herum. Aus Bolivien kommen gleich zwei Menschen an, die auf ihn nachhaltig wirken. Die frisch geschiedene Tante Julia ist sehr schön. Aber sie übersieht die Männlichkeit des Jungmachos, und spricht Mario als Kind an.
Pedro Camacho, Boliviens erfolgreichster Hörspielautor-, Regisseur und genialer Erzähler am Mikrophon wird von Radio Central nach Lima engagiert. Der Meister eröffnet seine erste Serie "Glück und Unglück des Don Alberto de Quinteros" mit der schicksalsschwangeren Folge "Die Heirat".
2: Mario jobbt als Nachrichtenredaktor bei Radio Panamericana und erhält Einblick in die Arbeitsweise des Hörspielmeisters Pedro Camacho, der bei Radio Central mit seinen in der breitesten Öffentlichkeit heiss diskutierten Radio-Novelas die Einschaltquoten in schwindelerregende Höhen treibt - zur Freude der Inhaber beider Radiostationen, Genaros sen. und Genaros jun. Besonders beliebt ist die Serie "Wachtmeister Lituma, der Schrecken der Unterwelt von Callao", die mit der Folge "Der Geheimnisvolle" ihren Auftakt nimmt. Und Tante Julia ist wirklich sehr schön in ihrem blauen Kleid. Bei Onkel Luchos Geburtstagsfeier im schicken "Grill Bolivar" erringt Mario den Sieg eines Kusses, gekrönt mit ernsthaften Gesprächen und der Verabredung zu gemeinsamen Kinobesuchen.
3: Der junge Peruaner Mario, Jurastudent in den frühen fünfziger Jahren und mittlerweile Nachrichtenchef bei Radio Panamericana, erhält von den Besitzern Genaro sen. und jun. eine Personalaufstockung: Da Pedro Camacho, der grosse Hörspielmacher bei Radio Central, das auch den Genaros gehört, mit dem Geräuschmacher Pablito unzufrieden ist, wird dieser in Marios Nachrichtenredaktion versetzt. Mit Pablito wird ein Analphabet Journalist. Dafür ist die argentinische Botschaft in Lima mit Camacho unzufrieden und beschwert sich über des Meisters beständige Angriffe auf ihr Land in den äusserst beliebten Radio-Novelas. Dabei sind doch diese nachgerade getränkt mit Redlichkeit und moralischem Engagement - etwa die Serie "In Salomos Fussstapfen", wie deren hoch dramatische Folge "Der sündige Penis" demonstriert. Auch Marios Privatleben nimmt eine möglicherweise dramatische Wendung: Seine skandalösen Treffen mit Tante Julia werden von Javier, seinem besten Freund, entdeckt.
4: Der bolivianische Hörspielstar von Radio Central, Pedro Camacho, weiht Mario und Tante Julia in die tieferen Geheimnisse seiner Arbeitsmethode ein. Mit seinen Hörspielserien erzielt er nie da gewesene Erfolge, um die er sich in seiner Arbeitswut ebenso wenig schert, wie um den Liebeskummer, den Mario ihm anvertraut. Ein Heiratskandidat Tante Julias entfacht im jungen Neffen Eifersucht. Der erste Krach zieht auf. Aber schön ist die erste Versöhnung. Marios bester Freund Javier drängt es, bei seiner Angebeteten Nancy - sie ist Marios Cousine - endlich zu landen. Mit einer spanischen Stierkämpfermantilla als Geschenk tritt er die Eroberung an. Weniger lieblich geht es in Camachos Serie "Federico Unzátegui, der Mann, der aus dem Urwald kam" zu. Die aktuelle Folge heisst "Die illustrierten Töchter" und zeigt das tragische Finale einer Familienplanung.
5: Pedro Camacho, der Hörspielmacher und Radiosprecher kann, wie die Besitzer der beiden Radiostationen Central und Panamericana befriedigt feststellen, auch die politische Spitze des Landes zu seinen Hörern zählen. Aber Mario, der junge Nachrichtenchef muss seine Tante Julia von einer gemeinsamen Zukunft trotz Altersunterschied überzeugen. Immerhin besteht er, wenn auch unverdientermassen, seine Zwischenexamina in Jurisprudenz. Mit Freund Javier und dessen Freundin Nancy (sie ist eine Cousine Marios) verbringen Tante und Neffe einen anregenden und ausgelassenen Abend und laufen Onkel Jorge über den Weg. Ob der das skandalöse Paar nicht bemerkt oder willentlich übersehen hat und die Familie informiert? - In Marios Vabanquespiel steigt der psychische Druck auf eine schwindelerregende Höhe. - Und rein zufällig eröffnet Camacho in dieser Woche seine neue Hörspielserie: "Auf Lucía Acémilas Couch", in der die Welt aus der Sicht der Psychotherapeutin gezeigt wird. Die erste Folge heisst: "Der Kinderscheck."
6: Ob der Hörspielmacher von Radio Central, Pedro Camacho, seinen Zenit überschreitet? - Der arbeitswütige Hörspielstar, der gleich mehrere Hörfolgen täglich erarbeitet, beginnt, Serien und Figuren zu verwechseln. So auch in seinem neuen Werk "Aufstieg und Niedergang der Familie Bergua", die mit der Folge "Das Messer" anhebt. Camachos Hörspielensemble bittet den jungen Nachrichtenchef Mario um Vermittlung bei den Medieninhabern Genaro sen. und jun., kommt doch zu den Verwirrungen des Meisters ein neuer Hang zum Anschwellen seiner Erzählpassagen zu Ungunsten der Hörspielelemente und damit der Arbeit des Ensembles hinzu! Über dies führen die Tiraden, die er in seine Hörspielserien gegen Argentinien einbaut, zu Ausschreitungen gegen ihn auf offener Strasse. Auch Mario trifft das Schicksal hart: Die Familie hat Wind bekommen von seinem Verhältnis mit Tante Julia. Die Eltern im Ausland sind bereits verständigt worden. Ein Gewitter scheint aufzuziehen.
7: Der grosse Mann des Hörspiels im Peru der frühen fünfziger Jahre, Pedro Camacho, gesteht Mario, dem blutjungen Nachrichtenchef von Radio Panamericana, sein Problem mit dem Gedächtnis, das seine so beliebten Hörspielserien durcheinanderbringt. Auch die Serie "Pater Seferino, die Faust Gottes" ist betroffen. Man merkt das bereits in der ersten Folge "Die bewaffnete Predigt". In Marios Familie eskaliert der Skandal um das Liebesverhältnis mit Tante Julia. Die Eltern künden ihre Rückkehr aus dem Ausland an, und Julia ist drauf und dran, nach Bolivien zurückzukehren. Mario aber hält seine angebetete Tante zurück: Er macht ihr einen Heiratsantrag. Zusammen mit Cousine Nancy und Freund Javier wird ein Weg zur Heirat ohne Familie geplant. Und Marios Mitarbeiter Pascual weiss auch einen Bürgermeister, der die Trauung ohne korrekte Papiere vornehmen will. Die Jagd nach dem legalisierten Glück beginnt.
8: Mario, der junge Jurastudent und Nachrichtenchef bei Radio Panamericana in Lima, ist fest entschlossen, die skandalöse Beziehung zu seiner Tante Julia gegen den Widerstand seiner Familie zu legalisieren, obwohl er weder volljährig ist, noch eine elterliche Heiratserlaubnis hat. Er wird von seinem besten Freund Javier, dem Mitarbeiter Pascual und von seiner Cousine Nancy tatkräftig unterstützt. Aber in der Hauptstadt lässt sich unter den gegebenen Umständen in Sachen Heirat nichts ausrichten. Mario und Julia reisen in Begleitung der Freunde aufs Land, um der Ankunft der Eltern aus dem Ausland auszuweichen, und um Jagd zu machen nach einem Bürgermeister, der ein Auge zudrückt und sie vermählt. - Ergebnislos. Die Hochzeitsnacht in einem schäbigen Hotel findet so vor der Trauung statt, während Freund Javier in die Hauptstadt zurückfährt. Ob es ein Glück mit Happyend gibt oder nicht? - In Pedro Camachos neuer Hörspielserie "Joaquin Hinostroza Bellmont, Tänzer auf dem Fussballfeld" kann von glücklichem Ausgang nicht die Rede sein. Gleich in der ersten Folge "Die Gitter" gehen alle Figuren in den Untergang. - Etwas ungünstig für eine Serie!
9: Endlich klappt es: Mario und Tante Julia haben einen Bürgermeister gefunden, der sie traut. Der Clan, vor vollendete Tatsachen gestellt, steht Kopf, der Vater stösst sogar Morddrohungen aus, und die eheliche Tante muss für sechs Wochen ins Exil. Aber schliesslich glätten sich die Wellen. Dafür schnappt der grosse Hörspielmeister Pedro Camacho über und muss in eine psychiatrische Klinik eingewiesen werden. Seine letzte Hörspielserie "Crisanto Maravillas, der Barde von Lima" macht sein Hörspielensemble arbeitslos und scheitert - symptomatisch für des Meisters Zustand - gleich in der ersten Folge "Der Sturz ins Beinhaus".
10: Im Epilog zur Serie wird Bilanz gehalten: Mario bezeichnet die Ehe mit seiner Tante Julia im Rückblick als "richtigen Erfolg", der immerhin acht Jahre lang anhielt. Distanz zur Familie kann man ihm jedenfalls nicht vorwerfen: Nach der Scheidung von der Tante hat er eine Cousine geheiratet. Jahre später, er ist ein erfolgreicher Schriftsteller geworden und lebt in Europa, trifft er auf einem seiner Urlaube in der Heimat auf alte Freunde, und die halten eine Überraschung für ihn bereit: Die unerwartete Begegnung mit Pedro Camacho, der jetzt kein bewundertes Genie mehr ist, sondern ein subalterner Angestellter in der Redaktion eines Boulevardblattes.
Mario Vargas Llosa, 1936 in Arequipa (Peru) geboren, gehört zu den wichtigsten lateinamerikanischen Schriftstellern. 2010 erhielt er den Literatur-Nobelpreis.
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