Es ist mittlerweile mehr als ein halbes Jahrhundert her, doch die Erinnerungen des verstorbenen Großvaters zeugen noch von den Schrecken der stalinistischen Gulags. In der Lektüre des Enkels erwachen sie zu neuem Leben. Endlich glaubt er zu verstehen, wie es war: als Intellektueller unter Kriminellen, am Ende der Nahrungskette der Baracke. Doch der Fluch der Bildung war gleichzeitig der Segen, der den Großvater am Leben erhielt. Solange er die Mitgefangenen mit Nacherzählungen von Puschkin und Dostojewski unterhielt, war er sicher. Alles, was ihm nach dem Tod Stalins und der Entlassung aus der willkürlichen Lagerhaft blieb, waren die Lieder der Gauner: die Blat-Songs. Gleichzeitig angezogen und abgestoßen von ihnen, muss es für ihn keine leichte Erfahrung gewesen sein, als plötzlich der Enkel zur Gitarre griff, und die Lieder von der schönen Bandenchefin Murka oder vom Marsch ins Lager so im Nebenzimmer erklangen, wie dereinst in der Baracke.
Oleg Jurjew, 1959 in Leningrad geboren, lebt in Frankfurt am Main als Lyriker, Dramatiker, Essayist und Erzähler.
Olga Martynova, geboren in Dudinka, Gebiet Krasnojarsk, aufgewachsen in Leningrad. Lebt seit 1991 in Frankfurt am Main als Lyrikerin und Romanautorin.
🔥 Hörspiel des Monats August 2014
Ursendung: 31.08.2014
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