Rechnitz ist eine kleine Marktgemeinde im Burgenland im Bezirk Oberwart in Österreich, direkt an der Grenze zu Ungarn. Am 24. März 1945, dem Samstag vor Palmsonntag, treffen hier gegen 18 Uhr etwa 200 vornehmlich jüdische Gefangene ein, die aufgrund ihres Erschöpfungs- oder Krankheitszustandes nicht mehr zu Zwangsarbeiten bei der Errichtung des Südostwalls herangezogen werden können. Auf dem nahegelegenen Schloss Rechnitz veranstalten Graf Ivan von Batthyány und seine Frau Margit, geborene Thyssen-Bornemisza, an diesem Abend ein Gefolgschaftsfest für die örtliche Nazi-Führung. Gegen 23 Uhr rekrutiert der Ortsgruppenleiter Franz Podezin eine 14- oder 15-köpfige Gruppe unter den Festteilnehmern zur Liquidierung der arbeitsunfähigen Gefangenen. Kaum zwei Stunden ist die Gruppe vom Fest abwesend, dann kehrt sie von ihrer Tat zurück und feiert mit den anderen Gästen bis in die frühen Morgenstunden weiter. Keine vier Tage später wird Rechnitz von der Roten Armee eingenommen. Von den Teilnehmern an der Massenhinrichtung werden später lediglich zwei zu einer kurzen Haftstrafe verurteilt, alle anderen können sich entweder durch Flucht einer Verurteilung entziehen, oder werden, wie der Graf und die Gräfin, niemals belangt. Nach dem Einmarsch der russischen Truppen findet eine stichprobenweise Exhumierung durch russische Offiziere sowie anschließend auch durch das Bezirksgericht Oberwart statt. Doch spätere Grabungen bleiben trotz intensiver Suche ergebnislos. Bis heute sind die Überreste der Ermordeten verschwunden. Elfriede Jelinek nimmt in ihrem Stück Rechnitz ebenfalls Grabungen vor, nicht im Erdreich, sondern sie nimmt ihre Bohrungen in der Sprache vor. 1994 haben sich die Dokumentarfilmer Margareta Heinrich und Eduard Erne nach Rechnitz begeben, um vor Ort in O-Tönen von Zeitzeugen zu recherchieren, ihr Film erhielt bezeichnender Weise den Titel Totschweigen (A Wall Of Silence) und genau hier setzen die Sprachoperationen von Jelinek an.
Sie schickt in der Tradition des antiken Theaters einen/mehrere Boten vor, von den totgeschwiegenen Ereignissen zu berichten, doch der/die Bote/n verstrickt/verstricken sich fortwährend in Widersprüche, verhaspeln sich, verlieren den Faden, lenken ab, täuschen darüber hinweg, reden sich heraus – es entsteht ein beredtes Schweigen und doch redet/reden sich der/die Bote/n um Kopf und Kragen. Die Übertragung des Textes in das Radio verstärkt dabei einen Aspekt modernen Botentums – längst haben die Medien diese Funktion übernommen. Dabei ist eine Art ritualisierte Bewältigungsprogrammatik entstanden – Geschichtspornographie, bei der Hitlers Frauen, Hitlers Hunde, Hitlers Tagebücher vorgeführt werden, aber die unaussprechlichen Ereignisse dahinter verdrängt bleiben.
Elfriede Jelinek, geb. 1946 in Mürzzuschlag/Steiermark. Romane, Theaterstücke, Libretti, Drehbücher, Hörspiele. Auszeichnungen, u. v. a. Hörspielpreis der Kriegsblinden (2004, für Jackie), Nobelpreis für Literatur (2004).
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