Es ist der 1. April 1909. 87 Grad 47 Minuten nördliche Breite. Commander Robert Peary, amerikanischer Held und Rassentheoretiker, bricht mit einer kleinen Polgruppe zur letzten Etappe auf dem Weg zum Nordpol auf. Bis auf vier Inuit und seinen Diener Matthew Henson hat er alle Begleiter zurückgeschickt. Er ist 53 Jahre alt und acht seiner Zehen sind erfroren, so dass er keine längeren Strecken auf dem Eis mehr gehen kann. Sein einst penibel geführtes Logbuch beginnt sich im Frostnebel aufzulösen. Immer geheimnisvoller werden die vagen Eintragungen, bis schließlich ganze Seiten fehlen und selbst das Ziel, die Eroberung des Pols, nicht mehr genannt wird. Am gleichen Tag, etwa zehn Breitengrade südlicher, kämpft ein anderer Amerikaner um das Überleben im arktischen Eis. Er ist auf dem Weg in Richtung Süden, wo er der Welt seinen Triumph verkünden will. Pearys ehemaliger Expeditionsarzt Frederick Cook behauptet, bereits im April des Vorjahres den Pol erreicht zu haben. Doch auf dem Rückweg trieb ihn die Eisdrift ab und zwang ihn zu einer Überwinterung unter unvorstellbaren Entbehrungen. Er überlebte die Polarnacht. Doch seine Aufzeichnungen erreichten nie die Shetland-Inseln, von wo aus er im September 1909 seine Nordpolentdeckung verkünden wird. Hans Platzgumer schickt 2008 eine weitere Person in das ewige Eis. Sebastian Fehr ist vor der Überflussgesellschaft Mitteleuropas geflüchtet und befindet sich auf dem Weg zu seinem ultimativen Ziel, dem Erfrieren in der totalen Einsamkeit des Franz-Josef-Lands, den nördlichsten Inseln der Welt. Dort gedenkt er seine menschliche Existenz ein für alle Mal abzulegen. Benommen von Schmerztabletten und geblendet vom andauernden Schneelicht spricht er die Eindrücke seines Verschwindens in ein Diktafon. Hans Platzgumers Hörspiel ist eine Collage aus drei Tage- bzw. Logbüchern, in denen die Grenzen zwischen Fakten und Fiktion, zwischen Wahrheit und Wahnvorstellung mit jedem weiteren Tag in der Eiswüste unkenntlicher werden. Entstanden ist eine Darstellung aus drei Perspektiven, die sich vereinen und aus unterschiedlichen Motiven dasselbe Ziel anpeilen: den entlegensten Ort der Welt, das Ende der Messbarkeit, die Auflösung der Ratio. Dort oben auf etwa 90 Grad Nord, mitten im Nichts.
Hans Platzgumer, geboren 1969 in Innsbruck, ist Mitglied der "Goldenen Zitronen" und verschiedener Projekte wie z.B. "Seperator". Für den BR realisierte er, u. v. a. eine Folge von Jack Kerouacs "Unterwegs" (1998), den Soundtrack zu "Radio Noir" von Albert Ostermaier (1999) und mit Caroline Hofer einen Teil der "soundstories/materialmeeting" (2000).
Ursendung: 14.12.2008
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