Rotkäppchen und der Wolf´ ist eine Wortoper, ein vielstimmiges, symbolisches Stück Sprachmusik. Ich wollte nach zwei umfangreichen Romanen und während der Vorbereitung eines weiteren Romans einmal etwas schreiben, das geeignet war, einen Rausch zu erzeugen, ein ungehindertes Strömen der Imagination, eine Sprachwollust und ein mit Leidenschaft gemischtes eigentümliches Gelächter. Ich war der genauen Schilderung der Realität satt, ich hatte mich an der Zergliederung der Welt, wie sie mich umgibt, erschöpft. Statt dessen sollte mich nun die Sprache selbst führen, an ihrem Faden tastete ich mich durch den labyrinthischen deutschen Märchenwald. Vorbilder gab es viele, von Calderons Welttheater bis zu Lewis Carrolls ´Alice im Wunderland´, der geneigte und gebildete Leser wird noch mehrentdecken. Aber nicht auf das Eingraben literarischer Fundstücke in den Waldboden kam es mir an, sondern auf einen Akt der Befreiung und der Unbekümmertheit, die das, was die Sprache in ihrer Erinnerung ohnehin enthält, dem eigenen Spiel nutzbar macht. Kein Zweifel, daß ´Rotkäppchen´ einer gewissen romantischen Literatur am nächsten steht, die sich eine Mischung der Empfindungen zum Ziel gesetzt hat: eine Ironie, die sich im Raum des Pathos entfaltet, ohne den hohen Ton zu entkräften, lyrischer Gesang, der sich aus Groteske und Pasticcio entwickelt, rhetorischer Glanz, der sich aus der Komik des Absurden nährt. In ´Rotkäppchen´ ist vieles hineingeheimnist, und zugleich liegt der Kern dieses Stückes für jeden offen da: das Glück, das mir das Spiel mit einer reichen Sprache bereitet hat. (Martin Mosebach) Frankfurt am Main, lebt nach dem Studium der Rechte seit 1979 als freier Schriftsteller. Er schrieb Romane, Erzählungen, Drehbücher und Aufsätze zur neueren Kunst.
Ursendung: 04.07.1990
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