David soll König werden, irgendwann, in ferner Zukunft. Aber jetzt hat er nichts. Er ist geflohen vom Hofe Sauls, lebt auf der Straße, ohne saubere Kleidung, ohne Essen. Doch es gibt noch Jonathan, der ihn liebt, den er liebt. Aber was soll David mit dem feinen Hemd, das Jonathan ihm bringt, wenn es doch dazu führen wird, dass er unter die Räuber fällt? Wo ist der Unterschied zwischen Jonathan und denjenigen, von denen David im Tausch gegen seinen Körper Brot bekommt? Wie kann Liebe überhaupt funktionieren zwischen dem Königssohn und dem Ausgestoßenen, zwischen dem, der alles hat, und dem der nichts hat?
Quer durch die Jahrtausende hat eine bestimmte Lesart des Alten Testaments, unterstützt durch entsprechende Auslegung und Übersetzung, organisierter Religion eine tief homophobe Färbung verliehen. Doch wenn man sich von der Auslegungstradition löst, kann man sie finden: diejenigen biblischen Geschichten und Verse, in denen die Liebe ganz bedingungslos gefeiert wird – auch zwischen Mann und Mann:
Jonathan, deine Liebe war mir immer mehr als die Liebe zu Frauen.
[David, der König der Juden (2. Sam 1,26)]
Sasha Marianna Salzmann, 1985 in Wolgograd geboren und in Moskau aufgewachsen, migrierte 1995 nach Deutschland. Hausautorin des Berliner Maxim Gorki Theaters sowie Mitbegründerin des Kultur- und Gesellschaftsmagazins "freitext", lebt in Berlin und Istanbul.
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Ursendung: 28.09.2016
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