Wenn einer in sein dreißigstes Jahr geht, wird man nicht aufhören, ihn jung zu nennen. Er selber aber, obgleich er keine Veränderungen an sich entdecken kann, wird unsicher, ihm ist, als stände es ihm nicht mehr zu, sich für jung auszugeben. Und eines Morgens wacht er auf, an einem Tag, der er vergessen wird, und liegt plötzlich da, ohne sich erheben zu können, getroffen von harten Lichtstrahlen und entblößt jeder Waffe und jeden Muts für den neuen Tag. Wenn er die Augen schließt, um sich zu schützen, sinkt er zurück und treibt ab in eine Ohnmacht mitsamt jedem belegten Augenblick. Er sinkt und sinkt, und der Schrei wird nicht laut (auch er ihm genommen, alles ihm genommen!), und er stürzt hinunter ins Bodenlose, bis ihm die Sinne schwinden, bis alles aufgelöst, ausgelöscht und vernichtet ist, was er zu sein glaubte. Wenn er das Bewußtsein wiedergewinnt, sich zitternd besinnt und wieder Gestalt wird, zur Person, die in Kürze aufstehen und in den Tag hinaus muß, entdeckt er in sich aber eine wundersame neue Fähigkeit, sich zu erinnern.
Ingeborg Bachmann, (1926–1973), geboren in Klagenfurt, ging zum Studium der Philosophie nach Wien. 1946 veröffentlichte sie die erste Erzählung, "Die Fähre", bald folgten Gedichte, für die sie u.a. den "Preis der Gruppe 47" erhielt. 1959 wurde ihr der "Hörspielpreis der Kriegsblinden" für "Der gute Gott von Manhattan" verliehen. 1961 erschien ihr Erzählband "Das dreißigste Jahr", 1971 der Roman "Malina", der die Ouvertüre des großangelegten Romanprojektes "Todesarten" sein sollte, das bis zu ihrem Tod in Rom unvollendet blieb.
Ursendung: 19.05.1961
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