Teil 1: Lichte Höhen
Arno Schmidt zählte Karl Mays Doppelroman Ardistan und Dschinnistan (1907/1909), wie überhaupt dessen späte Romane und dessen einziges Drama Babel und Bibel (1906), zu den "merkwürdigsten Werken deutscher Zunge" und leitete aus ihm vielerlei und allerlei her. Seine Deutungen gipfelten in der grandios gescheiterten Studie Sitara und der Weg dorthin (1963). Wobei: auch Arno Schmidt kam vom Wege ab und verfehlte, ähnlich wie Karl May, sein selbst-gestecktes Ziel: "Jedenfalls ist es bei diesem Ardistan & Dschinnistan so, daß man sich bis zur letzten Zeile immer noch in Ardistan befindet, das ‚& Dschinnistan‘ ist Programm geblieben, ja selbst das ‚hochinteressante‘ Zwischenland Märdistan mit der ‚Geisterschmiede‘ muß man sich aus Babel und Bibel hinzukonstruieren." Dieser Doppelroman – ein Bündel aus zahlreichen losen Handlungsfäden, die sich selbst auf über 1.200 Seiten nicht verknüpfen und am Ende "im Winde flattern" – erzählt auf der Folie des Märchens von der Spiegelerde Sitara, das für Karl May den Beginn seines "eigentlichen", allerdings nie vollendeten Werks darstellt, von der letzten Reise des Kara Ben Nemsi. Er unternimmt sie im Auftrag seiner Freundin Marah Durimeh, um den drohenden Krieg zwischen Ardistan und Dschinnistan zu verhindern. (Was ihm im Übrigen gelingt!) Seine Reise führt ihn an die Grenzen Dschinnistans, aber auch an die Grenzen seines Ichs. Jenseits davon, so heißt es, liegen die Pforten des Paradieses. In diesen Jahren schrieb Karl May, das ist kein Zufall, zudem einen seiner aufregendsten Texte: die "psychologische Studie" Frau Pollmer (1907) sowie seine Autobiographie Mein Leben und Streben (1910), die nicht grundlos mit dem "Märchen von Sitara" beginnt. Ardistan und Dschinnistan lässt sich denn auch ohne weiteres als symbolistisch überhöhte, psychologisch-theologisch aufgeladene Selbstvergewisserung eines Autors deuten, der sich seinen Jenseitsvorstellungen, sie in eindrückliche Bilder transformierend, rückhaltlos auslieferte. "Hier sieht man May als das, was er ist: der bisher letzte Großmystiker unserer Literatur!" Arno Schmidt in Dya na Sore.
Teil 2: Insel der Heiden
Im Dschirbani, dem "Räudigen", der Hauptfigur des zweiten Teils des Hörspiels, sieht Arno Schmidt – neben Kara Ben Nemsi – ein weiteres Alter Ego Karl Mays. Der Wissenschaft gegenüber aufgeschlossen öffnet er sich dem Spirituellen, dem Transzendenten, wie niemand sonst im Roman: "Untersucht das Land, in dem wir wohnen! Was findet ihr weiter als Moder, Verwesung, Schimmel und Gestank! Und was findet ihr weiter als Leben, Schönheit, Kraft, Unsterblichkeit und Duft? Heut sage ich: Das Leben duftet, der Tod aber stinkt! Und morgen sage ich: Der Tod duftet, das Leben aber stinkt! ... Was von beiden ist richtig? ... Ich sage, beides! Denn Leben und Tod sind eins. Man kann nicht leben, ohne immerfort zu sterben. Und man kann nicht sterben, ohne dabei das Leben zu erneuern. Merke dir das, o Hadschi Halef Omar, daß du nicht an deinem letzten, sondern an deinem ersten Atemzuge stirbst! Du lebst, indem du ohne Unterlaß verwest. Aber du hast dafür zu sorgen, daß nicht etwa beide stinken, dein Leben sowohl wie dein Tod, sondern daß beide duften."
Teil 3: Stadt der Toten
"Schön war sie gewesen, diese einstige Hauptstadt und Residenz von Ardistan! Wenn ich mir die seltsam gestalteten Höhen, zwischen denen sie lag, bewaldet und mit grünenden, blühenden Gärten ausgestattet dachte, so fiel mir keine europäische Großstadt ein, von der ich hätte sagen mögen, daß sie mit ihr zu vergleichen sei.
Nun lag sie da als Leiche! Es gab keine Spur von Pflanzengrün, von Tier- und Menschenleben. Und doch war der Ausdruck ‚Leiche‘ und ‚Tod‘ nicht ganz richtig. Es gibt überhaupt keine vollpassende, sprachliche Bezeichnung für das Gefühl, welches mich wie mit mächtigen, unwiderstehlichen Fäusten packte, als mein Blick auf dieses ungewöhnliche, starre, öde, leere Häusermeer fiel. Denn die Gebäude standen noch genau so da, wie sie vor Jahrhunderten gestanden hatten. Fast nichts war zerstört. Nur die weit draußen liegenden Hütten der Armut hatten sich in Trümmer, in formlose Haufen verwandelt."
"Die fantastische Schilderung der ‚Totenstadt‘", schreibt Arno Schmidt, ist "ein wirkliches Meisterstück, das eine wirre Kette unvergeßlicher Bilder vorführt."
Teil 4: Marah Durimeh
Zweifelsohne, Marah Durimeh ist die geheimnisvollste Gestalt im Werk Karl Mays. Wie keine andere Figur durchgeistert sie sein Spätwerk ... Sie ist die Herrin von Sitara, dem in Europa "fast gänzlich unbekannten Land der Sternenblumen" ... Herrscherin aus uraltem Königsgeschlecht ... ist alterslos und weise ... voller Würde ... oder, mit den Worten Hadschi Halef Omars: "... kein gewöhnliches Weib, sie ist auch keine Königin. Sie ist ein Dschinni, eine Seele, ein Geist. Ja noch mehr: sie ist nicht nur Seele oder Geist, sondern sie ist die Herrin und die Gebieterin aller Seelen und aller Geister, die es gibt. Allah segne sie!" Eigentlich hat mit ihr alles begonnen. Sie schickte Kara Ben Nemsi auf seine letzte Reise, auf jenem Segler namens "Wilahde". Was nichts anderes heißt als Geburt. Und mit ihr wird alles enden, denn sie wird dort sein, wo er hinkommt. Weil der Anfang das Ende ist und das Ende der Anfang. Und sie wird es hören, wenn er aufsteht und sagt: "Hier. Hier bin ich."
Sitara Seelenland - Vortrag, Augsburg 1909
Von jeher habe er ein Hakawati, ein Märchenerzähler, werden wollen, sagte Karl May am 8. Dezember 1909 anlässlich eines Vortrags, den er im Schießgrabensaal zu Augsburg hielt – und erzählte ein Märchen: Geht man drei Monate lang von der Erde aus direkt zur Sonne und dann noch drei Monate in genau derselben Richtung weiter, gelangt man zu einem Stern, von kleiner Gestalt zwar, für uns aber von großer Wichtigkeit, den man als Sitara bezeichnet. Sitara ist ein persisches Wort und bedeutet: Stern. Dieser Stern hat einen Durchmesser von etwa 1.700 Meilen und einen Umfang von 5.400 Meilen. Er bewegt sich in etwas über 365 Tagen einmal um die Sonne. Diese Zeit nennt man ein Jahr. Und in rund 24 Stunden einmal um sich selbst. Diese Zeit heißt ein Tag. Er besteht aus Land und Wasser. Das Land nimmt ein Drittel und das Wasser zwei Drittel der Oberfläche ein. Das Festland gruppiert sich in das Tiefland Ardistan und das Hochland Dschinnistan. Ard heißt Erde, heißt Erdboden, irdischer Stoff. Dschinn heißt Geist, heißt Seele. Das sei doch gar kein Märchen, sagen Sie. Wie recht Sie haben: Denn auf welchen Stern stoßen wir, wenn wir vom jetzigen Augenblick an 3 Monate lang auf die Sonne zugehen und dann noch 3 Monate lang in derselben Richtung über die Sonne hinaus? Auf die Erde. Sitara ist also nichts anderes als unsere Erde – mit dem Auge des Märchens betrachtet, das tiefer schaut als jedes andere Auge.
Karl May (1842–1912) ist einer der meistgelesenen Schriftsteller deutscher Sprache und einer der am häufigsten übersetzten. Die weltweite Auflage seiner Werke beträgt weit über 200 Millionen Exemplare. Zahlreiche Verfilmungen und mehr als 300 Hörspiele lassen sich verzeichnen. Seine Abenteuerromane um Kara Ben Nemsi und Hadschi Halef Omar sowie um Old Shatterhand und Winnetou leben auch heute noch fort.
Ursendung: 30.04.2017
Als Download / Im Handel verfügbar seit / ab: 28.05.2017
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