Ein deutscher Emigrant in Frankreich wird 1940 von französischen Autoritäten zusammen mit vielen anderen Leidensgenossen in einem Güterzug "südwärts" deportiert. Einerseits hieß es, die Emigranten sollten vor dem Zugriff der vorrückenden Nazitruppen geschützt werden, andererseits wurden sie wie Kriegsgefangene behandelt. Der jüdische Emigrant, um den es hier geht, es ist der libertäre Autor und Philosoph Anselm Ruest, schreibt während des mehrtägigen Transports und unmittelbar danach einen äußerst detaillierten dokumentarischen Bericht über diese Verschickung im verschlossenen Viehwaggon von Cépois nach Marseille.
Der Text fand sich in Ruests Nachlaß. Die artifizielle Ausdrucksweise in klassisch gedrechselten Sätzen macht den beklemmenden Reiz dieses Berichts aus, vor allem im Hinblick auf die menschenunwürdige Situation, die er beschreibt.
Hartmut Geerken hat sich diesem Text zu nähern versucht, indem er 1988 die aus Ruests Text vage rekonstruierte Strecke mit "offenem Mikrophon" nachfuhr. Was er akustisch einfangen konnte, hat nichts mehr zu tun mit Ruests Bericht. Fast fünfzig Jahre sind vergangen, und aus unverschweißten Gleisen sind verschweißte geworden. 1988 gibt es nichts, was an die Deportation von 1940 erinnert, es sei denn, daß die Orte, an denen Ruest und Geerken sich aufhielten, und die Strecken, die sie fuhren, deckungsgleich waren, aber auch das bleibt unsicher. Vor dem Studiotermin existierten der Text von Anselm Ruest (1942) und das unbearbeitete Tonband vom Bahnhof von Valence (1988). Diese beiden Materialien waren Grundlage für die "Partitur" des Hörspiels, in der dem Sprecher unterschiedliche Sprechweisen abverlangt wurden. Der "Entzifferungsstrang" der Partitur wurde realisiert, indem der Sprecher nicht das Rundfunkmanuskript als Vorlage hatte, sondern den schwer lesbaren handgeschriebenen Originaltext von Anselm Ruest in einem alten Schulheft. Die aufgenommene Fassung war die erste Begegnung des Sprechers mit dem Text.
Als Gegenstück zu diesem quasi-editionstechnischen Gemurmel, das sich von Anfang bis Ende durch das Hörspiel zieht, steht eine unbearbeitete verzweifelte Sprechanstrengung am Schluß des Hörspiels, in der dem Sprecher als Parameter vorgegeben wurde, so schnell wie möglich und ohne sinngebende Rhetorik über den Text hinwegzufliegen. Der Mittelteil besteht aus 13 kurzen Textfragmenten in überhöhtem Pathos als Reminiszenz an Ruests expressionistische Vergangenheit.Alle drei Sprechweisen des Hörspiels dokumentieren das Scheitern an einem Text über eine Extremsituation, der auch selbst, im Original, gescheitert ist, da er Fragment blieb.
🔥 Karl-Sczuka-Preis 1989
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