Wir fragen einander ständig, wie es uns geht. Aber eigentlich wissen wir gar nichts vom anderen. Vielleicht ist es möglich, etwas wirklich Neues zu erfahren, wenn man exakt die gleichen Dinge tut, die ein Anderer sonst immer tut. Gib dein Leben auf. Übernehme das Leben eines Anderen. Vergiss, wer du vorher gewesen bist. Versuche, ganz der Andere zu sein. Lösche seine Existenz aus, bis nur noch Platz für dich da ist. Guck, was dann mit dir passiert. Das Beobachten und Nachahmen von Emotionen ruft einer Studie zur Neurobiologie des Einfühlungsvermögens zufolge im Gehirn ähnlich Erregungsmuster hervor wie das eigene Tun. Dabei wurden nicht nur die an der Empathie beteiligten Hirnareale gefunden, sondern auch deren neurobiologische Mechanismen untersucht: "Auf Grund empirischer Untersuchungen korreliert die Empathie positiv mit verschiedenen Intelligenzmaßen, emotionaler Stabilität, kognitiven Differenzierungsleistungen und höherer Struktur der Sprache", heißt es in der Studie. "Fehlende Empathie verbindet sich dagegen mit Stereotypenbildung, Intoleranz und Vorurteil." Auf der anderen Seite muss auch der Jäger sehr viel Einfühlungsvermögen für seine Opfer entwickeln, - sonst wäre er wenig erfolgreich. Fünf Testpersonen haben die Aufgabe, ab sofort in ein anderes Leben zu schlüpfen. Sie bekommen nur eine Adresse, den Haustürschlüssel, ein paar wenige Daten und Handlungsanweisungen. Sie kennen den anderen nicht. Sie übernachten in der anderen Wohnung, schauen aus dem anderen Fenster, trinken aus der anderen Tasse, blättern in den anderen Fotoalben. Nur das Aufnahmegerät ist dabei. Kann man sich in das andere Leben hineindenken? Sogar Emotionen empfinden, die einem zuvor unbekannt waren? Wie der wohl ist, der sein Zimmer mit Kinderzeichnungen ausstaffiert hat. Wie es sich für den wohl anfühlt, der morgens um fünf in die dunkle Küche tapst, um für die Freundin die Brote zu schmieren, die gleich raus muss zur Frühschicht. Ist Empathie wirklich möglich? Vielleicht scheitert sie schon an den grundlegenden Dingen. Wenn wir von Grün reden, wissen zwar alle, was gemeint ist. Aber wie sieht der andere Grün wirklich? Vielleicht sieht es für ihn ganz anders aus. Vielleicht ist sein Grün mein Gelb. Oder umgekehrt.
Tina Klopp, geboren 1976, studierte Germanistik und Politikwissenschaft an der Universität Hamburg. Danach besuchte sie die Deutsche Journalistenschule München und erhielt 2006 den Friedwart Bruckhaus-Förderpreis für junge Wissenschaftler und Journalisten. Klopp arbeitet als freie Journalistin und Autorin in Hamburg.
Ursendung: 09.11.2008
Als Download / Im Handel verfügbar seit / ab: 17.12.2017
📥
Link zum Download
...