Auressio - so heißt der Ort im Tessin, in dem der Schweizer Einsiedler Armand Schulthess gelebt hat. Wenig ist über ihn bekannt. Die junge Künstlerin Ingeborg Lüscher erlebt Schulthess wie ein scheues Tier, als sie erstmalig sein Terrain erkundet. Er versteckt sich vor ihr, beäugt sie aus dunklen Fensterhöhlen und hinter Bäumen verborgen. Dann wirft er Steine nach ihr. Sie ist attraktiv, neugierig, unerschrocken und sucht die Nähe des misstrauischen Einsiedlers, bis dieser bereit ist, mit ihr zu sprechen: "Sie wissen gar nicht, wie anders Ihre Welt ist, als meine. Am Anfang, da hatte ich alles mitgebracht von Zürich. Eisschrank, Toilette, Boiler, Waschbecken. Alles habe ich. Ich habe sogar drei Eisschränke. Aber nichts braucht man. Nicht mal das Klo". Auf dem Steilgelände seines Areals verknotet Schulthess Zweige zu Geländern und baut aus Sperrmüll, Baumstämmen und Altreifen abenteuerliche Stege und Aussichtspunkte. Dazwischen hängt er Hunderte von Schrifttafeln und Gegenstände in die Bäume seines Kastanienwalds und offeriert dem unerbetenen Besucher sein enzyklopädisches Wissen, genauer, ein einzigartiges Ordnungssystem des Weltwissens in einer Art Freiluft-Enzyklopädie. Es sind schriftliche Anmerkungen zur Menschheitsgeschichte, zum Leben, seiner chemischen Zusammensetzung, seiner biologischen Voraussetzung wie seiner astrologischen Ausdeutung, abgeschrieben aus Lexika, Zeitungen und Druckerzeugnissen aller Art. Er klassifiziert und verbindet das Unverbundene, bindet mit Drähten und Kordel zusammen, was nach Halt in seinem Verstand sucht. Die wenigen Menschen, die auf sein Grundstück kommen, Jugendliche aus dem angrenzenden Dorf Auressio oder Maronisammler, nehmen mit, was sie als Souvenir entwenden können - und zerstören die poetische Ordnung.
Ingeborg Lüscher schrieb die Monologe von Armand Schulthess auf. Durch ihre Dokumentation "A.S. Der größte Vogel kann nicht fliegen" lernte sie Harald Szeemann, den Macher der documenta 5 kennen, das Werk von Armand Schulthess wurde dort 1972 als ein Aspekt "Individueller Mythologie" vorgestellt. Als Schulthess 1972 starb, wurde sein wildwuchernder Garten des Wissens plattgewalzt. Mit Peter Moritz Pickshaus suchte Lüscher im Jahr 2007 noch einmal das Areal auf, wo sich einst der Wunderwald des Armand Schulthess befand. Das Hörspiel "Auressio" läßt ihn wiedererstehen.
Vorstellung im OhrCast
Ursendung: 28.02.2010
Als Download / Im Handel verfügbar seit / ab: 28.02.2010
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