Der Spatz in der Hand oder die Taube auf dem Dach - in solchen Liebesnöten hat auch Frank Reichert selbst einmal gesteckt. Im Herbst 1999 war das. Denn ausgerechnet in der Milleniumsnacht sollte er seine große Liebe nach zehn Jahren zum ersten Mal wiedersehen. Jene Julia, mit der er, weil er die Ungewissheit ihrer Beziehung nicht länger ertrug, gebrochen hatte, ohne sie je vergessen zu können. Damals war die DDR binnen weniger Tage in sich zusammengerutscht, und er war Ute nähergekommen, die er beim Neuen Forum kennengelernt hatte. Ihr gemeinsamer Copy-Shop florierte, und ähnlich unkompliziert war ihr Zusammenleben, gerade auch was den Sex anbetraf. Inzwischen hatten sie ein Kind.
Eigentlich waren sie zu glücklich, als dass das bevorstehende Wiedersehen mit Julia ihn hätte derart elektrisieren können. Und doch beschäftigte ihn ein Vierteljahr lang nichts anderes als die Vorbereitung auf dieses Treffen: Als würde damit nicht bloß ein neues, sondern, endlich, das richtige Leben beginnen. - Es war anders gekommen. Heute ist er froh darüber. Hat er etwas daraus gelernt, so ist es erotischer Pragmatismus, kleine Seitensprünge gehören dazu. Diese Lektion gibt er gern weiter. An die aufregenden Wochen 1999, an die Verrücktheit der Silvesternacht selbst erinnert er sich freilich sehr genau. Und wenn er heute davon erzählt, wird alles wieder lebendig und straft die Lehren Lügen, für die er das beste Beispiel sein will.
Ingo Schulze, geboren 1962 in Dresden, seit seinem Debüt mit demErzählungsband "33 Augenblicke des Glücks" einer profiliertestenSchriftsteller seiner Generation.
Ursendung: 03.12.2018
Als Download / Im Handel verfügbar seit / ab: 03.10.2022
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