""Neben dem Fall des Massenmörders Fritz Haarmann gehört der Fall des Fritz Angerstein aus Haiger bei Siegen zu den meistdiskutierten Kriminalfällen der Weimarer Republik. Angerstein brachte am 1. Dezember 1924 seine Familie und vier Hausangestellte um, ein achtfacher Mord binnen eines Tages. Da der Täter keinerlei Motiv angeben konnte, wurde der Gerichtsprozess in dieser erweiterten Familientragödie, die in vielerlei Hinsicht heutigen Amokläufen gleicht, nicht nur zu einem Schaulaufen verschiedener damals konkurrierender Erklärungsmodelle in Presse und Justiz, sondern geradezu zu einem Emblem jener Zeit: ´Angersteins Verbrechen ist das unsrige´, lautete der Kommentar von Paul Schlesinger, prominentester Gerichtsreporter der Weimarer Republik, der im Gerichtssaal in Limburg an der Lahn anwesend war. Angerstein selbst, der Geschäftsführer eines Kalkwerks, ein wohlsituierter Mann, gab nach seiner Festnahme an, weder er noch die anderen würden ihn wirklich kennen. Wer war dieser Angerstein: eine blutrünstige Bestie oder ein in unruhigen Zeiten irregeleiteter Normalbürger? Die komplizierte Beziehung zu seiner kranken Frau, die er aufopferungsvoll pflegte, die Boshaftigkeiten seiner Schwiegermutter, die im selben Haus wohnte – das alles schienen wahrlich nur schwache Motive für seine Tat zu sein. Und so prägte der zweite prominente Prozessbeobachter Siegfried Kracauer in der ´Frankfurter Zeitung´ das Wort von der ´Tat ohne Täter´. Durch den psychologischen Gutachter in diesemFall, Richard Herbertz, auch Doktorvater von Walter Benjamin, kam in der deutschen Gerichtspraxis dann erstmals der Begriff des ´Es´ zur Anwendung, ein psychoanalytischer Terminus, eine außerhalb unsererBewusstseinszonen operierende Instanz also, die Angerstein zu seiner Tat verleitet hätte. Aber reicht diese Deutung aus?""
Jan Decker, geboren 1977, lebt und arbeitet als Schriftsteller in Osnabrück. Er studierte am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Für ARD, Deutschlandradio und SRF schrieb er mehr als 20 Hörspiele und Features. Daneben verfasste er zahlreiche Bücher, Theaterstücke, Libretti, Erzählungen, Essays, Gedichte und Artikel. Sein Werk wurde mehrfach ausgezeichnet, zuletzt 2017 mit dem Hessischen Literaturstipendium Emilia Romagna und dem Johann-Gottfried-Seume-Literaturpreis. Jan Decker unterrichtete an mehreren Universitäten, unter anderem an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe und der Universität Osnabrück. Er ist Mitglied im PEN-Zentrum Deutschland.
hoerspielTIPPs.net:«Jan Decker hat für dieses Hörspiel den realen Fall des Massenmörders Fritz Angerstein bearbeitet. Er erzählt sowohl von den Vorgängen im Vorfeld, aber gibt auch den Folgen und dem Rückblick recht viel Raum. Es entsteht ein umfassendes Bild, dass letztlich die Umstände darstellt, aber nicht bewertet. Etwas problematisch ist die Darstellung, die ich mir persönlich etwas gradliniger gewünscht hätte. Auch das Format hätte etwas sachlicher sein können.»
Vorstellung im OhrCast
Ursendung: 05.07.2019
Als Download / Im Handel verfügbar seit / ab: 04.07.2019
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