Während Nitta erzählte, hatten ihre Augen zu leuchten begonnen, und Robs erkannte darin die gleiche Sehnsucht, die ihn so oft quälte. Er verstand, wovon sie sprach. Sie sah ihn an und lächelte."Jetzt weißt du, warum es Winter werden muss", sagte sie. "Aber du weißt nicht, wie der Winter gemacht wird. Ihr kennt die Kälte nicht mehr. Und darum braucht ihr uns." Robs blieb stehen. "Soll das heißen, ihr macht den Winter?", fragte er. Nitta fasste ihn am Ärmel und zog ihn weiter den Weg entlang. "Um genau zu sein", sagte sie, "hier in dieser Stadt mache ich ihn." Fast wäre Robs vor Staunen der Mund aufgeklappt. "Und warum du?", fragte er. "Die Erwachsenen haben andere Pflichten. Sie müssen die Familien ernähren und das Eis bewahren. Deshalb schicken sie jedes Jahr die Kinder in den Süden. Jedes in eine andere Region." "Und du kommst hierher, weil deine Familie aus dieser Gegend stammt?" "Genau", sagte Nitta. "Du hast es verstanden." Während sie sich unterhielten, waren sie weiter geradeaus gegangen, tiefer in den Wald hinein. Die Äste bildeten ein dichtes Dach, und Robs konnte nicht mehr sagen, ob es noch Tag war oder schon dunkel wurde. Der Wald hielt ganz still, kein Zweig regte sich und keine Vogelstimme war zu hören. Robs versuchte sich vorzustellen, alles um ihn herum läge unter einer haushohen und glasklaren Eisschicht. Stumm und starr und schön. "Manche Dinge kann man nicht erzwingen", sagt die Mutter zu Robs, der sich am Fenster die Nase plattdrückt. Er weiß, dass sie ihn nicht versteht. Hier geht es doch nicht darum, etwas zu erzwingen! Sondern darum, wie es ist, wenn die Sehnsucht nach etwas immer größer wird, bis sie so groß ist, dass man fast platzt. Robs sehnt sich nach Schnee, und er geht hinaus, um herauszufinden, wann es endlich schneit. Auf seiner Wanderung begegnet er Nitta, dem Eskimomädchen. Nitta weiß alles über die Kälte und den Schnee und darüber, was man tun muss, damit es schneien kann. Sie ist extra aus dem Land der Menschen, dem Land der Inuit, in das Land von Robs gekommen, um dem Himmel dabei behilflich zu sein. Natürlich hat sie Heimweh nach ihrem Hund, und da ist es gut, dass Robs wenigstens sein Stofftier dabei hat. Nitta erzählt Robs viele Geschichten, und Robs träumt von Grönland. Er beobachtet, wie feiner Eisstaub unter den Pfoten der Schlittenhunde aufwirbelt und ihr Fell mit einer glitzernden Schicht überzieht. Er hört die Rufe der Eismenschen. Er fühlt die kalten Tropfen, wenn die Fischer einen Fisch aus dem Wasser ziehen und in ihren Kajak werfen. Kann es sein, dass Nitta wirklich seine neue Freundin ist? Manche Dinge kann man nicht erzwingen, aber man kann sie sich trotzdem ganz genau vorstellen.
Juli Zeh, geboren 1974 in Bonn, lebt in Leipzig. Sie studierte Jura sowie Literatur am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Seit Ende 2003 Volljuristin und Doktorandin der Rechtswissenschaft an der Universität Saarbrücken. Ihr Roman "Adler und Engel" (2001) wurde zu einem Welterfolg und ist mittlerweile in 28 Sprachen übersetzt. Zuletzt erschien "Schilf" (2007). Juli Zeh hat für den SWR bereits zwei Hörspiele für Erwachsene geschrieben. Sie wurde für ihr Werk vielfach ausgezeichnet, u. v. a. mit dem Deutschen Bücherpreis (2002), dem Rauriser Literaturpreis (2002), dem Hölderlin-Förderpreis (2003) und dem Ernst-Toller-Preis (2003).
hoerspielTIPPs.net:«Juli Zeh erzählt hier eine Geschichte, die sehr einfühlsam von Kinderwünschen und -sehnsüchten berichtet. Dabei ist es hier der ungewöhnliche Traum von Grönland und dem Schnee, der den kleinen Robs im Bann hält.
Die gewählte Perspektive aus Sicht seines Stofftieres Purzel, ist eine glänzende Idee, um den Erzählerpart in die Geschichte zu verweben, ohne dass man dabei eine direkt handelnde Figur nutzen muss.
So schafft man eine interessante Sicht auf das Geschehen und eine ungewöhnliche Nähe - insbesondere zur Hauptfigur.
Die Geschichte berührt nicht nur am Ende, sondern schafft es auch, während der gesamten Spielzeit, den Hörer emotional zu fesseln.
Ein Gutteil dieses Aspektes darf sich auch die gelungene Umsetzung auf die Fahnen schreiben. Denn das Team um Iris Drögekamp hat es geschafft, die Stimmung des Buches sehr gut zu tansportieren.
Insbesondere ist es die angenehme Erzählweise Tommi Pipers, der seine Rolle mit dem richtigen Maß an Naivität zu füllen weiß, und so dem Stück den richtigen Ton verleiht.
Die musikalische Untermalung stammt von Thomas Gerwin, den man ja eher aus der "Audio Art"-Ecke kennt. Seine Kompositionen tragen die Kulisse hier sehr gut und schaffen eine Atmosphäre, die die Geschichte noch bewegender macht.
Einfach ein schönes Hörspiel!»
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