Anne Schaller war mittelerfolgreiche Schauspielerin, bevor sie den Rufen ihres Vaters und ihrer inneren Stimme nachgab: Mach was gscheit´s, hieß es, schau auf dein Auskommen, nicht immer bloß auf Selbstverwirklichung! Jetzt sitzt sie hier in einer Außenstelle des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, wo sie lernt, wie man Asylanhörungen durchführt und über Anträge entscheidet. Endlich mal richtiges Leben, dachte sie sich, dazu öffentlicher Dienst samt vermögenswirksamer Leistungen. Doch sie merkt: Die Verantwortung ist immens. Flüchtlinge sitzen zitternd vor ihr. Sie wird deren Leben entscheidend beeinflussen. Die alten Bekannten daheim in Niederbayern beschimpfen sie als Flüchtlingshelferin, die Schauspielerkollegen haben sich noch nicht entschieden, ob sie sie als Unterwanderin des Systems heiligsprechen oder als Handlanger der Abschiebeindustrie verachten sollen. Anne hört sich noch immer von außen, wenn sie ein Anhörungsprotokoll diktiert. Sie fragt sich, ob sich das jemals ändern wird, diese Frage: Wer das ist, die da spricht, der sie da zuhört, die da die Staatsmacht repräsentiert, ausgerechnet sie. Ob das nicht alles ein Irrwitz ist oder eben genau das Wesen des Rechtsstaats: dass ein Mensch ihn repräsentiert. Seit drei Monaten hört sie sich Asylgeschichten an, bis zu fünf Leben pro Tag. Sie fragt nach Papieren, Chronologie, Belegen, Erfahrungen, Angehörigen, Misshandlungen, Fluchtgründen und Fluchtrouten. Ganz sachlich macht sie das, distanziert, aber nicht kalt. Empathie und Bürokratie, fein austariert. Die emotionale Entsättigung, die ihr dieser Job auferlegt, vielleicht ist es für sie auch entlastend. Früher, am Theater, musste man sich immer ganz reinschmeißen, in die Rolle, das Stück, man musste fühlen ohne Ende, sich selber, die anderen, das Publikum, man musste seine Rolle finden, verstehen, annehmen, hinterfragen, man musste sich immerzu verhalten zu irgendetwas - und dann wieder davon entfremden, das dialektisch geschulte Publikum will es so. Dilemmata waren gut. Hier im BAMF ist das Gegenteil von Theater gefragt: die Herstellung von Eindeutigkeit. Der Staat in Form von Anne steht vor der Aufgabe, eine klare Haltung zum Vortrag des Antragstellers zu entwickeln: Qualifiziert sich der Antragsteller für Asyl? Für Schutz nach der Genfer Flüchtlingskonvention? Für subsidiären Schutz? Gibt es Ausreisehinderungsgründe? Ist der Antragsteller ausreisepflichtig? Wie kann es sein, dass ein Mensch - mit all seinen Launen - über das Wohl von anderen Menschen entscheidet? Doch wer, wenn nicht sie, soll sich diesen Fragen immerhin stellen?
Andreas Unger, geboren 1977, lebt in München, Sozialjournalist, Dokumentarfilmer und Autor. Studium der Diplom-Journalistik an der Ludwig-Maximilians-Universität München und der Internationalen Beziehungen an der Georgetown University in Washington DC. Absolvent der Deutschen Journalistenschule.
hoerspielTIPPs.net:«Selten, dass ich das "Hörspiel des Monats" auch für auszeichnungswürdig halte. In diesem Fall ist es dies tatsächlich. Andreas Unger erzählt die Geschichte von Anne, die den Schauspielerberuf an den Nagel hängt und sich jetzt beim BAMF als "Anhörerin" verdingt. Sie sieht ihre Aufgabe pragmatisch und prüft die Fälle anhand der Vorgaben strikt ab. Dennoch wird ihr Tun unterschiedlich wahrgenommen. Für die ihre Bekannten und Verwandten in der (provinziellen) Heimat ist sie die, die dafür sorgt, dass Migranten das Land überschwemmen, für ihre ehemaligen Kollegen aus dem eher linken Kunstbetrieb, diejenige, die Menschen eiskalt abserviert. Die beiden - und auch ihr eigener Blickwinkel stehen sich hier gegenüber und beschreiben die schwierige, ideologisch aufgeladene Situation ohne zu werten. Der Hörer ist hier am Zug, sich Gedanken zu machen. Was ist richtig? Was ist falsch? Gibt es beides überhaupt?
"Die Anhörerin" ist ein Hörspiel, das zum Nachdenken anregt und wahrscheinlich nur das Problem hat, dass diejenigen, die nachdenken müssten, es nicht hören werden.»
🔥 Hörspiel des Monats Juli 2019
Vorstellung im OhrCast
Ursendung: 21.07.2019
Als Download / Im Handel verfügbar seit / ab: 25.01.2024
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