""Ich gab mir mehr als andere Mühe, seine Launen zu ertragen, und während die wenigen seiner vormaligen Freunde, die ihn in seiner nun mehr als zwanzigjährigen Einsamkeit besuchten, nur ein paar Augenblicke verweilen mochten, sei es, dass ihr Mitleid zu rege wurde, dass sie von der Erscheinung eines so beklagenswerten geistigen Zerfalls sich zu tief erschüttert fühlten, oder dass sie schnell damit fertig waren, indem sie vermeinten, man könne nun eben einmal kein vernünftiges Wort mehr mit ihm reden, und es verlohne sich der Mühe nicht, dem psychischen Zustand des Verwirrten einige Aufmerksamkeit zu schenken, so hielt ich keine Stunde für verloren, die ich ihm widmete, besuchte ihn ununterbrochen viele Jahre lang, sah ihn oft bei mir, nahm ihn auf einsame Spaziergänge, in Gärten und Weinberge mit mir, gab ihm zuweilen Papier zum Schreiben, durchsuchte seine noch übrigen Schriften, brachte ihm Bücher, ließ mir vorlesen, und bewegte ihn unzählige Mal, Klavier zu spielen und zu singen. So wurde ich nach und nach an ihn gewöhnt und legte das Grauen ab, das wir in der Nähe solcher unseligen Geister fühlen, so wie er seinerseits sich an mich gewöhnte, und die Scheu ablegte, die ihn von jedem, ihm nicht ganz bekannten Menschen trennt." Wilhelm Waiblinger, Friedrich Hölderlins Leben, Dichtung und Wahnsinn"
Ursendung: 15.03.2020
Als Download / Im Handel verfügbar seit / ab: 08.03.2020
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