Die "Turksib", die "Turkestan-Sibirische Eisenbahn", Ende der 20er Jahre Prestigeobjekt des ersten sozialistischen Fünfjahrplans, ist nach dem Zerfall der Sowjetunion eine der wichtigsten Nord-Süd-Bahnverbindungen zwischen Russland und Kasachstan geblieben. Für den in der DDR aufgewachsenen Schriftsteller, der mit ihr auf Vortragsreise durch die endlose Steppe unterwegs ist - Lutz Seiler bezieht sich auf eine eigene Reise im Jahr 2001 -, verwandelt sie sich in dieser eisigen Winternacht allerdings in ein nicht mehr geheures, mythisches Gefährt. Begleitet von seiner Übersetzerin, einem Konsul sowie einem Dombraspieler und dessen dreizehnjähriger Tochter, einen auf dem Bahnsteig von fliegenden Händlern erworbenen Geigerzähler unterm Pullover, verliert er den Boden unter den Füßen. Hat der Heizer schon auf ihn, den Deutschen, gewartet? Die "Turksib" rattert ins Nichts, und ob Lebensreise, ob Höllenfahrt, er fährt mit ihr dahin. In die erstickende Umarmung der Vergangenheit, einen Bruderkuss ohne Entrinnen.
Lutz Seiler, 1963 in Gera geboren und seit 1997 literarischer Leiter des Peter-Huchel-Hauses, erregte bereits mit seinem Debüt "Pech & Blende" im Jahr 2000 als Lyriker Aufmerksamkeit. Mit "Turksib" (Bachmann-Preis 2007) wurde er auch als Erzähler bekannt. Für den Erzählband "Die Zeitwaage" (2009) wurde ihm der "Deutsche Erzählerpreis" zuerkannt.
Ursendung: 26.09.2011
...