Ist es die Geschichte um einen ehemaligen Wirtschaftsexperten und eine alte Dame oder ist es die Geschichte einer Ehe am Scheideweg? Joachim findet 2006 beim Umzug sein Tagebuch vom Herbst 1990. Anna, neugierig auf die ihr unbekannte Zeit und Seite ihres Mannes, drängt ihn, es vorzulesen. Es handelt sich um Notizen, die hauptsächlich seine Gespräche mit der rätselhaften alten Dame Josefine K. festhalten. Sie blickt auf eine Karriere als Sängerin zurück und spricht gerne ohne Selbstzensur und Rücksicht auf Konvention wie Logik. Während Joachim zwischen Frauengeschichten und erfolgreicher Lebensplanung Seinesgleichen geschehen lässt, ist er immer wieder angezogen von den schillernden Erzählungen Josefines. Aber er zweifelt: Kann Josefine überhaupt singen? Wie hat sie in der Nazizeit gelebt? Wovon lebt sie heute, und welche Rolle spielt ihre polnische Dienerin Fryda? Joachim versucht, ihr auf die Schliche zu kommen, sieht sich von dieser liebenswürdigen, aber "militanten Konservativen" in Frage gestellt, geht aber in Wahrheit mehr oder weniger seines Weges. Josefine und Joachim - eine Episode aus dem bürgerlichen Leben, so scheint es, die beim Wohnungsaufräumen der Ehefrau erzählt wird. Am Ende aber ist selbst diese Geschichte Vergangenheit, denn der Umzugstag ist nur noch erinnerungsträchtige Tagebuchnotiz - wie vielleicht auch die Ehe mit Anna. Enzensberger jongliert mit den Zeitebenen und Erwartungen des Hörers und erzählt von den vermeintlichen Besonderheiten des Lebens in heutigen Zeiten. Im Rückblick erzeugen sie Sentiment - aber welche Konsequenzen oder Bedeutungen es hat, das bleibt offen. Josefine und ich - ein Stoff in zwei unterschiedlichen Ausführungen als Erzählung und Hörspiel. Hans Magnus Enzensberger schrieb das Hörspiel "Josefine & ich" zeitgleich zur 2006 im Suhrkamp Verlag erschienenen Erzählung für den HR. Dabei hat er als Kenner der verschiedenen Medien den Stoff auf die akustische Form und ihre ästhetischen Möglichkeiten hin konzipiert. Ein Vier-Personen-Stück ist entstanden, das mit den Mitteln der klassischen Ehekomödie spielt, einen Zeitgenossen am Ende des Jahrtausends porträtiert - und das natürlich eine Hommage ist auf die anarchische Kraft alter Damen. Und wer will, kann hier auch eine Paraphrase auf Glanz und Elend der Kunst und die Grenzen der Wissenschaft sehen.
Ursendung: 10.12.2006
Als Download / Im Handel verfügbar seit / ab: 30.11.2022
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