""Mit dem Fall Wagner beginnt sicher nicht die Geschichte des Amoklaufs in der Welt, es beginnt aber die Geschichte der wissenschaftlichen Dokumentation und Erklärung des Amoklaufs. [...] Ein Amoklauf ist ein solch komplexes und seltenes Phänomen, daß dazu viel zusammenkommen muß: Kränkung, Wut, Haß, Ressentiment, Männlichkeit und Unzufriedenheit damit, Rechtfertigung mit und ohne Philosophie, Selbstwertunsicherheit und aggressives Ideal, Rache, die nicht klein und alltäglich sein darf, dazu vielleicht Sadismus. Feinde und Rivalen, Planung und vorgestellter Nutzen, Gelegenheit, Waffen und Übung damit, Angst, Erregung und Verzweiflung, Menschenverachtung, Reizbarkeit und Depression, die Vorstellung von Erlösung, eine Mission oder die Ausgestaltung eines ´Lebenswerkes´. Ruhmsucht, Enthemmung oder die Lust auf solche. Eventuell eine Psychose oder nur gewöhnlicher Fanatismus und Radikalität. Ein Wahn alleine reicht nicht aus, ebensowenig wie das Internet – mit einem Wahn kann man auch still und glücklich werden. Allemal ein Vorbild und eine Vorlage zur Nachahmung und Identifikation. So etwas wie einen Amoklauf erfindet nicht jeder wieder aufs Neue. Der Prototyp, gleichsam der Pionier für unsere moderne Zeit, war in seinem Fall der Hauptlehrer Ernst August Wagner, der Mordbrenner von Degerloch."
Bernd Neuzner
Seit 1909 schon hatte sich Wagner in tagebuchartigen Notizen, die teilweise aufzufinden und in ihrer Chronologie zu rekonstruieren den Autoren gelang, mit der Planung seiner Tat beschäftigt. 1912 schrieb er beispielsweise: "Ich blicke zurück auf meine Tat. Gesetzt, sie wäre geschehen, könntet ihr anderen mehr tun als euch meine Tat denken? So ist das Gedachte also gleich dem Geschehenen. " Diese Tat beschäftigte später nicht nur die zeitgenössische Presse. Sie wurde z. B. auch zum Auslöser für Hermann Hesses Erzählung "Klein und Wagner" (1919 im Erstdruck erschienen)."
Ernst August Wagner geboren 1874 in Eglosheim, lebte als Lehrer mit seiner Familie, u. v. a. in Radelstetten, einem Dorf am Rand der Schwäbischen Alb, danach als Hauptlehrer in Stuttgart-Degerloch. In der Nacht vom 3. zum 4. September 1913 ermordete er in seiner Degerlocher Wohnung seine Frau und seine vier Kinder, fuhr danach mit Bahn und Fahrrad nach Mühlhausen an der Enz, wo er neun weitere Menschen tötete, elf schwer verwundete und einige Gebäude einäscherte. Statt zum Tod verurteilt zu werden, wurde Wagner am 4. Februar 1914 in die Heilanstalt Winnenthal bei Winnenden eingewiesen. Erstmals in der württembergischen Rechtsgeschichte wurde damit ein Prozess wegen Unzurechnungsfähigkeit eingestellt. Wagner starb 1938 in der Heilanstalt Winnenthal.
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