Walter Benjamins "Über den Begriff der Geschichte" (1940) besteht aus 20 kurzen, formal zwischen Prosadichtung und Essay stehenden Texten. Sie ziehen eine Linie, die die Auslöschung menschlicher Erfahrungsräume von den Materialschlachten des Ersten Weltkriegs bis hin zu faschistischen Massenbewegungen umkreist. Der Erste Weltkrieg wird hier nicht als Solitär begriffen, sondern als Konsequenz eines negativen Geschichtsprozesses, der in der Moderne, d.h. im Kapitalismus gründet. Benjamin setzt gegen den leeren Erfahrungsraum emphatisch den Begriff des geschichtlichen "Eingedenken". Die Texte scheinen so auf als Zeugnis seiner Sehnsucht nach Sprachwerdung der/des in der Geschichte Unterdrückten wie seiner Sehnsucht nach "messianischer Erlösung". Auf der Flucht vor den Nazis nahm sich Benjamin am Ende seines Fluchtwegs vom französischen Dorf Banyulssur- Mer hin zum spanischen Grenzort Portbou das Leben. Im Reisegepäck: der Text. Er erschien 1942 in den USA, herausgeben von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer. Diese Druckfassung liegt der Installation zugrunde. Christoph Korn geht den etwa fünfstündigen Fluchtweg über die Pyrenäen mit dem Mikrophon nach. Dieser führt über verkehrsreiche Straßen und einschlägige Wanderwege bis in unwegbares Gelände mit grandiosen Naturausblicken. Während des Weges spricht Korn die 20 Texte ein. Nach jeder 5minütigen Teilstrecke mit Text folgt ein 5minütiger Kamerablick zurück auf den bereits beschrittenen Weg. Als kontemplatives, in der Zeit verlaufendes Standbild verweist das Video auf den Benjaminschen "Engel der Geschichte", der auf die Geschichte als eine Erfahrung fortschreitender Katastrophe zurückschaut und vor Entsetzen schweigt, anstatt die frohe Botschaft zu verkünden. Die Tonspur der Videos Genau einen Monat nachdem der österreichisch-ungarische Thronfolger Franz Ferdinand in Sarajewo durch serbische Nationalisten ermordet wurde, eröffnete am 28.7.1914 die k.-u.-k-Monarchie gegen Serbien den Krieg, der binnen Tagen mit dem Eintritt Deutschlands, Frankreichs, Russlands und Englands zum Ersten Weltkrieg sich ausweitete. Die Handlung, in 100 Szenen und Höllen führend, ist unmöglich, zerklüftet, heldenlos. "Die letzten Tage der Menschheit", 1922 als Buch erschienen, haben heute ihren unbestrittenen Platz als eines der größten und genauesten Zeitbilder unseres Jahrhunderts – Panorama des Ersten Weltkrieges, Pandämonium und Apokalypse in einem. Karl Kraus hielt sein mehr als 700 Seiten umfassendes Stück für unaufführbar, trotzdem gab es viele Versuche, dies immer wieder aktuelle Werk in Teilen zu bewältigen und für die Gegenwart nutzbar zu machen. Diese Fassung basiert auf der berühmten Aufnahme aus dem Jahr 1947. Damals wurde eine öffentliche Aufführung live aus dem großen Sendesaal des Funkhauses übertragen, die alte Aufnahme wurde 1964 noch einmal für eine Hörspielsendung überarbeitet. wird dabei mit einem aus einem Kirchenlied abgeleiteten Sinuston überschrieben. Die weiteren Audio-Teile der Installation folgen donnerstags im Anschluss an das Hörspiel, die Videos sind nur im Netz abrufbar. Christoph Korn vermerkt zum Konzept: "Das www ist Medium für zerstreute, beschleunigte und fragmentarisierte Wahrnehmung. Es bietet auch Plätze für die Erfahrung von Entschleunigung. Diese (Frei)Räume sind mit dem Netz erstmalig allen zugänglich und bleiben nicht mehr den Eliten vorbehalten. Eine wahrhafte demokratische Errungenschaft. Es gilt, diesen Räumen eine durchs Medium und die Medien vermittelte Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, um zum Betreten einzuladen."
Christoph Korn, geboren 1965 in Frankfurt/Main, lebt als Klang- und Medienkünstler in Düsseldorf. Er realisierte zahlreiche intermedial angelegte Hörspiele wie "www.hyperghetto.de" oder"www.sorgeundkapitalismus.de". Seine Audio- und Internet-Arbeit "www.waldstueck.net" wurde auf der Ars Electronica Linz 2009 ausgezeichnet.
Ursendung: 03.07.2014
Als Download / Im Handel verfügbar seit / ab: 03.07.2014
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